Ruth Beckermann: "Ich weiß nicht, wie man diesen Job aushält"

Interview

Die diesjährige Gewinnerin des Friedensfilmpreises im Rahmen der Berlinale, Ruth Beckermann, hat einen Film über eine Brennpunktschule in Wien gedreht: 25 Kinder, keine Muttersprachler und eine Lehrerin, auf sich allein gestellt. "Favoriten" ist ein großartiger und nahbarer Film. Christian Bartlau sprach mit der Österreicherin über die Situation.

Ruth Beckermann
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Ruth Beckermann, © NIni Tschavoll

DIE ZEIT Österreich 11/2024

DIE ZEIT: Frau Beckermann, in Österreich wird händeringend nach Lehrpersonal gesucht. Sogar an Volksschulen sollen deswegen bald Quereinsteiger anfangen dürfen. Sie haben für Ihren Film Favoriten drei Jahre lang an einer Wiener Volksschule gedreht – haben Sie Lust auf den Beruf bekommen?

Ruth Beckermann: Nein.

ZEIT: Warum denn nicht?

Beckermann: Natürlich wird man dazu verleitet, weil die Kinder so besonders und charmant sind, ich habe sie sehr lieb gewonnen in dieser Zeit. Aber wenn, dann würde es mich eher reizen, eine Volksschule zu gründen, um wirklich etwas zu verändern.

ZEIT: Wie würde diese Schule denn aussehen?

Beckermann: Die Kinder würden mit dreieinhalb, vier Jahren in diese Schule gehen und auf spielerische Weise die Buchstaben und Lesen lernen – und natürlich Deutsch, wenn es nicht ihre Muttersprache ist. Wenn sie dann mit sechs Jahren Deutsch lesen und vor allem verstehen, können sie wunderbar unterrichtet werden. Sie saugen in diesem Alter ja Wissen auf wie Schwämme – wenn es ihnen Spaß macht.

ZEIT: Kein einziges von den 25 Kindern in der Klasse, die Sie porträtiert haben, spricht zu Hause Deutsch. Die Mädchen und Buben kämpfen immer wieder mit den Worten, sie verstehen die Aufgaben nicht. Welches Schulsystem der Welt soll diese Probleme lösen?

Beckermann: Da gibt es genug Beispiele. Ich habe mir in London Schulen angesehen, in Bezirken, in denen vor allem Menschen aus Bangladesh wohnen. Die Kinder gehen schon mit vier Jahren da hin, und vier Personen arbeiten mit ihnen: die Lehrkraft und Assistentinnen und Assistenten, die zum Teil aus den Communitys stammen. Die Schulen können diese Leute autonom engagieren. Das wäre hier gar nicht möglich.

ZEIT: Sie haben an einer sogenannten Brennpunktschule gedreht, der größten Volksschule des Landes. Dort gibt es keine Assistenten, keine Schulsozialarbeiterin, keine Schulpsychologin. Ist der Lehrerberuf unter solchen Umständen wirklich so "wunderschön", wie der Bildungsminister neulich sagte?

Beckermann: Dieser Bildungsminister ist indiskutabel, wie die meisten Bildungsministerinnen und -minister in diesem Land. Die haben keine Ahnung von dem, was in der Schule passiert. Und der Lehrerberuf ist schrecklich anstrengend. Ich weiß nicht, wie man diesen Job aushält.

ZEIT: Die Lehrerin der Kinder, Ilkay Idiskut, bleibt stets liebevoll und zugewandt.

Beckermann: Man muss diese Energie haben und diese Liebe zu den Kindern, um sich das anzutun. Es ist unverständlich, dass wir als eine der reichsten Gesellschaften der Welt es uns nicht leisten, die Lehrer zu unterstützen. Diese Lehrerin muss täglich selbst die Arbeitsblätter kopieren. Warum gibt es dafür kein Sekretariat und dazu noch Sozialarbeiterinnen, Übersetzer und Schulpsychologen? Das alles liegt derart im Argen und gehört grundsätzlich verändert. Aber dazu braucht man eine Zweidrittelmehrheit im Parlament, deswegen wird das in meiner Lebenszeit nicht passieren.

"Es wird nicht geschaut, was los ist in den Schulen"

ZEIT: Pro Kopf investiert Österreich aber im internationalen Vergleich viel Geld in die Schulen.

Beckermann: Es ist wie im Gesundheitssystem: Das meiste Geld geht in die Bürokratie. Es wird nicht geschaut, was los ist in den Schulen. Klar, jeder Bildungsminister und Bildungsstadtrat hat irgendeine Idee, die dann ein Pilotprojekt wird. Es liegen auch in dieser Schule Hunderte Broschüren mit Angeboten herum, aber die kommen bei den Eltern gar nicht an.

ZEIT: Viele der Probleme, die der Film aufzeigt, würde man so oder so ähnlich an einer Brennpunktschule vermuten. Was hat Sie bei den Dreharbeiten überrascht?

Beckermann: Wie neugierig und wie gern die Kinder in der Klasse sind, wobei das sicher mit der Lehrerin zu tun hat. Und überrascht hat mich, wie stark der Widerspruch ist zwischen den Kulturen und Religionen, die diese Kinder von zu Hause kennen, und den hiesigen Vorstellungen, wie man zu leben hat. Das kriegen die Kinder stark mit.

ZEIT: Die besuchen im Film eine Moschee: Dort scheinen sich einige viel sicherer zu fühlen, viel wohler als in der Schule.

Beckermann: Ja, sie kennen die Gebete, sie kennen die Abläufe. Religion spielt eine große Rolle in ihrem Leben.

ZEIT: Der Arbeitstitel des Films lautete Die Kinder von Wien. Jetzt heißt er einfach Favoriten. Warum?

Beckermann: Ich finde die Doppelbedeutung toll. Einerseits geht es um den Bezirk, aber die Kinder sind eben auch unsere Favoriten. Die haben viel Potenzial und sind zum Teil so charmant und offen. Ich finde es traurig und dumm von der Mehrheitsgesellschaft, dieses Potenzial nicht zu nutzen. Wobei ich denke, das hat politische Gründe.

ZEIT: Welche?

Beckermann: Die Leute, die sich selbst als die Eliten bezeichnen, wollen, dass diese Kinder bleiben, wo ihre Eltern sind. Wir erfahren ja von einigen Kindern, was die Väter und Mütter machen. Es sind die Systemerhalter: Krankenschwestern, Bauarbeiter, Reinigungskräfte. Die autochthonen Österreicher wollen, dass diese Kinder nicht weiterkommen.

ZEIT: Ihr Film wirft jeden Zuseher in die eigene Schulzeit zurück. Sie sind Jahrgang 1952, welche Erinnerungen tauchen bei Ihnen auf?

Beckermann: Meine Klasse war homogen, und es waren viele Kinder von Nazis da.

"Es geht auch darum, welche Werte Lehrpersonen vermitteln"

ZEIT: Das haben Sie als kleines Kind gespürt?

Beckermann: Oh ja. Und dann erinnere ich mich an das Kreuz, das ja noch immer an den Schulen hängt. Wir mussten zum Morgengebet immer aufstehen. Ich habe nicht mitgebetet, aber schon allein dieses Rumstehen war sehr unangenehm.

ZEIT: Was hat Ihre Lehrerin Ihnen mitgegeben?

Beckermann: Sie war so etwas wie eine Tante. Überhaupt war die Schule damals mehr wie ein Kindergarten. Diese Schularbeit, dieser Stress, den die Kinder heute haben, die Tests und Bewertungen, das gab es bei uns nicht. Die Schule war auch um elf oder zwölf Uhr aus, während die Kinder im Film in einer Ganztagsschule sitzen. Die Politiker glauben, so lernen sie eher Deutsch, was ein Quatsch ist.

ZEIT: Wieso?

Beckermann: Weil sie nicht mit deutschsprachigen Kindern zusammen sind, das ist das Problem in diesen Bezirken. Man könnte die Kinder durchmischen, nur sagen dann die Bobo-Eltern im vierten Bezirk: Huch, mein Kind wird mit dem Schulbus nach Favoriten gebracht? Da versuche ich alles, um das zu vermeiden. Das ist ein interessantes Phänomen, das ich von mir selbst kenne: Man setzt für seine eigenen Kinder nicht unbedingt um, wofür man politisch wirbt. Man will halt nur das Beste für seine Kinder.

ZEIT: Die Schule umweht eben so ein heiliger Ernst. Aber wird ihre Bedeutung nicht überschätzt? Vieles, was man dort lernt, vergisst man doch ohnehin wieder.

Beckermann: Es geht auch darum, welche Werte Lehrpersonen vermitteln. Ich hatte am Gymnasium eine Professorin, die war Antifaschistin und hat uns alles über den Aufstieg der Nazis beigebracht, das war für die ganze Klasse sehr wichtig. Und Ilkay Idiskut, die Lehrerin im Film, ist auch so: Sie lässt sich auf Diskussionen ein, egal ob es darum geht, ob Frauen schwimmen gehen dürfen oder ob Buben Mädchen auf den Po hauen dürfen ... Es ist wichtig, wie sich eine Person dort positioniert, die man so liebt wie eine Volksschullehrerin. Man verbringt so viel Zeit mit dieser Person, selbst wenn man es vergisst, bleibt sie im Gefühl.

ZEIT: Was hat Sie sicher gemacht, dass diese Schule ein guter Stoff für einen Film ist und der nicht fad wird?

Beckermann: Das ist das Risiko im Dokumentarfilm. Bei meinem vorherigen Projekt Mutzenbacher habe ich 100 Männer eingeladen, einen pornografischen Text zu lesen und danach über ihre Erfahrungen zu reden. Da war auch nicht klar, was das werden würde. Natürlich gibt es Kollegen, die mit Skripts arbeiten und Interviews vorab führen. Mir wäre das zu langweilig.

ZEIT: Die Jury der Berlinale fand den Film auf alle Fälle gut, er hatte dort Premiere und wurde mit dem Friedensfilmpreis ausgezeichnet. In der Begründung heißt es, dass "Bildungsarbeit auch Friedensarbeit" sei. Bei aller Freude: Ist da nicht ein bisschen das humanistische Bildungsideal mit der Jury durchgegangen?

Beckermann: Ja, vielleicht. Leider gibt es sehr viele sehr gebildete Leute, die Krieg machen. Bildung allein ist nicht alles. Bildung muss Wissensvermittlung und Herzensbildung sein – in der Kombination.


Dieser Artikel wurde zuerst in DIE ZEIT veröffentlicht.