„Verzicht ist nur die eine Seite der Medaille“

Hintergrund

Minimalismus, Veganismus, Tiny House Movement – viele populäre Trends und Praktiken versprechen Sinn über eine Abkehr von Konsumorientierung und Wachstumsdenken. Weisen diese „Ethiken des Verzichts“ auf einen gesellschaftlichen Wertewandel hin? In ihrem Buch „Hedonistische Askese“ reflektieren Roger Fornoff und Branka Schaller-Fornoff über aufgeklärten Hedonismus und das gute Leben.

Moderner Loft-Stil - leerer Raum mit polierten Betonböden, Wände und Decken. Es gibt große Fenster mit Blick auf die natürliche Landschaft zu sehen, Sonnenlicht scheint in den Raum.

Vor mehr als 10 Jahren konstatierte Harald Welzer in seinem Buch Selbstdenken. Eine Anleitung zum Widerstand, dass den westlichen Gesellschaften ihre utopische Perspektive auf die Welt abhandengekommen sei. Schon lange ginge es ihnen nicht mehr um die positive Gestaltung einer offenen Zukunft, sondern nur noch darum, einen längst destruktiv gewordenen Status quo mit immer verzweifelteren Maßnahmen aufrechtzuerhalten.

Als wir sieben Jahre später während der Corona-Pandemie, die Idee zu unserem Buch Hedonistische Askese entwickelten, hatte sich dieser verschattete Blick auf die Zukunft inmitten von Tod, Maskenzwang, Abstandsgeboten und Querdenker-Protesten noch weiter eingetrübt. Dies umso mehr, als all die anderen Bedrohungen, die zuverlässig unsere Zukunft verdunkeln, die Erderhitzung, das Artensterben oder die Vergiftung der Böden und Meere ja keineswegs aus der Welt verschwunden waren.

Phänomen der Zeit

Außer von dieser pessimistischen Grundstimmung, die von dem Gefühl getragen wurde, dass nicht nur die Gegenwart, sondern auch die Zukunft primär Probleme, Krisen und Katastrophen für uns bereithalte, waren die Tage von Corona aber auch noch von etwas anderem geprägt: Von weniger Energieverbrauch, weniger Emissionen, weniger umweltbelastender Mobilität und einer unvermuteten Ruhe und Langsamkeit. In der Krise veränderte sich das Leben in einer Weise, die sich angesichts unserer vormals so gehetzten Welt der Formulare, Termine, Fristen und Erledigungen seltsam anfühlte; denn Corona ermöglichte Muße, Müßiggang, Nichtstun und damit Räume für Fantasie und Imagination, die zuvor so nicht bestanden. Stress und Hektik, sonst ständige Begleiter im Berufs- und Alltagsleben traten in den Hintergrund, die unablässige Steigerungslogik, die gerade auch die Universitäten beherrscht, war wie von Zauberhand außer Kraft gesetzt.

Plötzlich existierte etwas im Überfluss, das ansonsten nie in ausreichendem Maße vorhanden ist: Zeit – Zeit zu diskutieren, zu philosophieren, zu lesen, zu malen, zu schreiben, Zeit für kritische Reflexion, für das Schöne, für die Liebe – und nicht zu vergessen, Zeit für das World Wide Web. Zeit, sich in dieser transnationalen digitalen Öffentlichkeit gründlich umzuschauen, sich von seinem Sofa in die Welt der sozialen Medien zu beamen, auf Facebook, Instagram, YouTube oder TikTok und dort mit einiger Überraschung zu entdecken, wie andere mit dem vermeintlichen Verlust der Zukunft und mit ihrem Unbehagen daran umgehen.

Es war tatsächlich so: Ausgerechnet Social Media erwies sich als der Ort an dem dieses immer weiter um sich greifende Unbehagen und die vielfältigen Response-Phänomene und Bewältigungsstrategien, die es hervorbrachte, deutlicher als irgendwo sonst sichtbar wurden.

Impulse für ein gutes Leben

Ausgerechnet hier in der Virtualität der sozialen Medien begegnete mir zum ersten Mal Cottage Core, die Konmari-Methode oder die 100 Things Challenge. Ausgerechnet hier kamen sie alle zusammen: die Clean Eaters, Urban Gardeners, Up-cycle Artists, Downshifter, die Tiny House Bewohnerinnen und Do it Yourself Aktivisten und die vielen vielen mehr, die das rat race der neoliberalen Tretmühlen restlos zu durchschauen schienen und offenkundig vor allem eines wollten: aus dem zunehmend unsinniger erscheinenden Paradigma von Wachstumswahn, Hyperkonsum, Dauerbeschleunigung und persönlicher Überbeanspruchung, das unsere Realitäten noch bis in die privatesten Bereiche hinein imprägniert, mindestens temporär auszusteigen.

Und noch etwas Anderes: Wir begannen, jedes Wochenende den pandemischen Angst- und Gefahrenräumen zu entfliehen und in die Berliner und Brandenburger Wälder zufahren, wo wir Atem holten in der terpenhaltigen Luft, lange Spaziergänge machten, die Bäume betasteten, den Vögeln und ihrem Gezwitscher lauschten und hofften, einen Fuchs, ein Eichhörnchen oder ein anderes Tier des Waldes zu erspähen. Und abends, heimgekehrt aus diesen grünen Wunderwelten, überlegten wir, ob es nicht möglich sei, etwas aus diesen Tagen in die Post-Corona-Epoche mitzunehmen, etwas von der Stille, dem Zeitreichtum, den Freiräumen, dem gesteigerten Mitempfinden, der Nähe zu Bäumen und Pflanzen und all den ästhetisch-kreativen Praktiken, die Corona – neben der ganzen heillosen Verzweiflung – eben auch initiiert hatte.  

„Ethik des Verzichts“

Denn eines wurde uns nicht zuletzt durch unsere eigene Praxis der Waldspaziergänge klar: Auch, wenn uns unter der Last der Gegenwart und ihrer Multikrisen die Zukunft oder genauer die großen Utopien und Erzählungen von der Zukunft abhandengekommen sein mochten – war der Impuls, das gute Leben – die Eudaimonia –, von der schon Aristoteles gesprochen hatte, bereits heute im Hier und Jetzt zu realisieren, nicht verloren gegangen. Aber dieser Impuls drückte sich nicht mehr in umfassenden Zukunftsentwürfen oder in einer elaborierten theoretisch-philosophischen Kritik des Bestehenden aus, sondern in sehr unterschiedlichen und viel kleinformatigeren Suchbewegungen – Suchbewegungen, die sich in Form von Praktiken und Gegenpraktiken – wenn man nur die Augen aufmachte – überall finden ließen: in den performativen Vollzügen des Yoga, in Minimalismus, Veganismus, Waldbaden, in Übungen zur plant sensitivity, in Digital Detox, in Retreats oder in der Nutzung von Meditations- und Achtsamkeits-Apps.

Fast alle diese Trends und Praktiken reagierten und reagieren nicht nur auf die Erschütterungen und Krisenphänomene unserer Gegenwart, sondern viel grundsätzlicher auf die entfremdenden und zerstörerischen Aspekte unseres Lebens- und Wirtschaftsmodells insgesamt und nehmen in vielen Fällen bewusst Abschied von unserer Kultur des „Immer mehr“ und des „Alles immer“. Entsprechend manifestiert sich in diesen Praktiken eine Art Neoasketismus, bei dem es sicher auch um eine „Ethik des Verzichts“ geht – denn viele dieser Praktiken propagieren ein Weniger: an Arbeit, Stress, Ressourcenverbrauch, Tierleid oder individueller Raum- und Weltbedarfe und nicht zuletzt ein weniger an Waren, Konsumgütern und – schlicht – Dingen, von denen ja nahezu jeder mindestens 10.000 besitzt – und nur ein paar hundert regelmäßig gebraucht.

Jenseits von Konsum und Entertainment

Verzicht ist aber nur die eine Seite der Medaille, denn zugleich versprechen neoasketische Praktiken auch neue und vor allem sinnerfülltere Formen von Lust und Genuss. Sie versprechen einen ökologisch und sozial geläuterten Hedonismus, der sich jenseits der warenförmigen Welten von Konsum und Entertainment positioniert, der klimaverträglich und moralisch sein will und dem es in emanzipativer Perspektive um das leibliche Sein geht, um die Öffnung von inneren Erlebnisräumen, um Sinnerfahrung, Selbstbestimmung und Selbstwirksamkeit, um eine Resonanzbeziehung zu Mitmensch, Mitgeschöpf und Mitwelt  – um Resilienz und ja, um Heilung, um die Heilung jener körperlichen und seelischen Versehrungen, die uns eine mitleidlose Moderne, die sich ganz den Prinzipien von Effizienz, Steigerung und Expansion unterworfen hat, Tag für Tag beibringt.

Und nicht zuletzt lassen sich diese neuen Praktiken als bewusst eingesetzte autonome Selbsttechniken und Subjektivierungsformen verstehen, als performative Akte, mit denen die Menschen nicht nur die Regeln ihres Verhaltens festlegen, sondern sich selber transformieren, sich in ihrem besonderen Sein modifizieren und sich in ein reflexives Verhältnis zu sich selbst und zu ihren Lüsten und Genüssen setzen. Mit Foucault ließe sich in diesem Zusammenhang auch von „Künsten der Existenz“ sprechen, die, von einem selbst gewählten Ethos getragen, im Modus der kontinuierlichen Einübung verwirklicht werden (vgl. Michel Foucault (1993): Der Gebrauch der Lüste. Sexualität und Wahrheit 2. Frankfurt am Main: Suhrkamp, 18.).

Wachstum und Profitmaximierung

So emanzipatorisch diese Perspektiven erscheinen, so bleibt am Ende doch zu fragen: Sind diese Praktiken, zu denen ja ihre Inszenierung und Ästhetisierung auf Social Media ebenso gehört wie der verbissene Überbietungswettbewerb um eine Maximalisierung des Minimalismus oder die Jagd nach möglichst hohen Clickzahlen, die sich wiederum in handfeste Gewinne umschlagen, – sind diese Praktiken anfällig dafür, von einem inzwischen ja selbst ästhetisch gewordenen Kapitalismus vereinnahmt zu werden – so wie es dem Kapitalismus ja immer schon gelungen ist, alle widerständigen Bewegungen zu assimilieren und sie in sein System des Wachstums und der Profitmaximierung einzupassen.

Laufen sie nicht Gefahr, zu Produktivkräften eines erneuerten materialistischen Hedonismus zu werden, der über Körperkult, Greenwashing, Wellness-Trends und einen vermeintlich ökologisch korrekten Konsum lediglich neue Mainstream-Trends und soziale Erwartungshaltungen bedient?

Wird das gefräßige Monster „Kapitalismus“ sich also auch diese Praktiken einverleiben, oder werden sie sich doch als widerständiger erweisen, als weniger individualistisch, weniger selbstzentriert und weniger korrumpierbar, als es den Anschein haben mag. Lassen sie sich vielleicht sogar als Vorschein eines – wie auch immer – diffusen gesellschaftlichen Neuen verstehen – eines Neuen, das im Angesicht des drohenden Untergangs der Welt im fossilen Feuer, wenn nicht alles täuscht, ja letztlich alternativlos erscheint?

Cover: Hedonistische Askese - Innenansicht, grauer Betonbau

Diese Fragen lassen sich gegenwärtig sicher noch nicht beantworten. Klar zu sein scheint aber, dass der grundlegende Wandel, der notwendig ist, um unsere Gesellschaften in ökologischer und psychosozialer Hinsicht zukunftsfähig zu machen, nicht nur ein politischer sein kann, sondern auch und gerade ein kultureller sein muss. Nimmt man diesen Befund ernst, dann erweisen sich die eudämonistischen Trends und Praktiken, die in dem Band Hedonistische Askese diskutiert werden, nicht zuletzt als Versuche, über eine selbstbestimmte Neuformatierung von alltäglichen Existenzvollzügen zu einem solchen dezidiert kulturellen Wandel beizutragen. In Anbetracht der multiplen Krisenhaftigkeit unserer Zeit verwundert es nicht, dass diese Trends sich nicht nur immer weiter ausdifferenzieren, sondern auch in zunehmendem Maße Anhänger finden. Die Herausgeber*innen planen entsprechend einen zweiten Band, der weitere eudämonistische Konzepte und Praktiken untersuchen und diese zugleich in einen größeren theoretischen und zeitdiagnostischen Horizont stellen wird.  


Dr. Branka Schaller-Fornoff ist Publizistin, Autorin und Moderatorin. Als promovierte Literaturwissenschaftlerin und Fellow für Staatswissenschaften und Staatspraxis konzentriert sie sich thematisch auf kulturelle und sozialpolitische Zusammenhänge, dies nach Jahrzehnten im Ausland und verschiedenen Lehrtätigkeiten an ausländischen Universitäten immer auch komparativ und interkulturell.

PD Dr. Roger Fornoff ist nach Stationen u.a. in Sofia, Belgrad, Berlin und Istanbul gegenwärtig als Leiter des Lehrbereichs Deutsch als Fremdsprache an der Universität zu Köln tätig. Er hat über Erinnerungsorte des Nationalsozialismus im Kontext von Deutsch als Fremdsprache habilitiert. Das thematische Spektrum seiner Publikationen reicht von Sprach- und Migrationspolitik über Literatur- und Kulturwissenschaft bis hin zur Kunstgeschichte.


Mitschnitt vom 6. März 2024

Buchvorstellung: "Hedonistische Askese - Neuverhandlungen von Sinn und Konsum im 21. Jahrhundert"